Johann Georg Tinius (1764-1846)

Johann Georg Tinius, 1764 im Flecken Stanko in der Niederlausitz auf einer preußischen Domäne als der Sohn eines armen Schäfers geboren, aber dank seiner ungewöhnlichen Begabung von vielen gefördert, besuchte, wie es seine Autobiographie schildert, die Universität Wittenberg und wurde 1798 Pfarrer zu Heinrichs in Thüringen, 1809 in Poserna bei Weißenfels. Über den menschenscheuen Mann, der zweimal verheiratet war, vier Kinder hatte und ein musterhaftes Familienleben führte, waren bis zum 14. März 1813 nur günstige Urteile zu hören gewesen: als er an diesem Tage mit Genehmigung des Konsistoriums verhaftet wurde, war er durch einen Magister St. In B. schon am 17. Februar 1813 von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen und den Maßnahmen der Gerichtsbehörden in Kenntnis gesetzt worden, ohne daß er die Beweisstücke, die ihn später eines Raubmordes überführten, beseitigt hätte.

Am 28. Januar 1812 um 10 Uhr vormittags war ein wohlhabender Leipziger Kaufmann Schmidt, der in der Grimmaischen Gasse wohnte, von einem Fremden, der den alten Herrn zu einer geschäftlichen Unterredung aufgesucht hatte, durch eine ihm angebotene Prise betäubt und dann so schwer am Kopfe verletzt worden, das er am 6. April starb. Der Mörder hatte 3000 Taler in Obligationen erbeutet, die er noch am selben Vormittage in einem Bankgeschäfte umwechselte, wobei er ruhig über eine halbe Stunde im Kontor blieb; ja noch einmal zurückkehrte, um sich über den Verkauf eine Quittung ausstellen zu lassen.

Die Nachforschungen nach dem Verbrecher blieben damals vergeblich. Am 8. Februar 1813 wurde Leipzig wieder durch die Kunde eines gleichen Verbrechens erschreckt: die Witwe Kunhardt war bei Überreichung eines Bittbriefes überfallen worden, sie erlag schon am 10. Februar ihren schweren Verletzungen, die denen Schmidts glichen. Die Absicht des Raubes hatte Tinius diesmal nicht verwirklichen können: er war während der Tat gestört worden und hatte flüchtend auf der Treppe die Magd seines Opfers, die er von früher kannte, angesprochen.

Die Untersuchung führte im März 1814 zur Eröffnung des Kriminalprozesses, aber erst 1823 Kam es zur entscheidenden Verurteilung, da viele formale Schwierigkeiten – Poserna war damals gerade preußisch geworden, und Verdunklungsversuche durch Tinius, der Zeugen brieflich zum Meineide verleiten wollte, und immer neue gegen ihn erhobene Beschuldigungen – wie diese, daß er verschiedene Male in Postkutschen ähnliche Überfälle durch Anbieten seines betäubenden Schnupftabaks eingeleitet habe – die Untersuchung erschwerten.

Auf die Beziehung des Pfarrers von Poserna zum Morde des Kaufmanns Schmidt war das Gericht erst durch Briefe des Mörders aufmerksam geworden; daneben hatte sich ergeben, daß er auch Kirchengelder unterschlagen hatte. Das endgültige Urteil lautete auf zwölf Jahre Zuchthaus, eine milde Erkenntnis, die wohl lediglich durch das stete Leugnen des Tinius und manche Lücken im Indizienbeweis veranlaßt war.

Schon am 31. März 1814 war Tinius öffentlich in der Nikolaikirche zu Leipzig durch den Superintendenten Rosenmüller feierlich seines Amtes entkleidet worden. Die Rede bei der Amtsentsetzung erwähnte ausdrücklich, daß Tinius durch seine Büchersucht zu Ausgaben veranlaßt worden wäre, die seine Einnahmen bei weitem überstiegen hätten. (Die Bücherei des Verbrechers, rund 17 000 Bände, kam am 5. November 1821 in Leipzig zur gerichtlichen Versteigerung.) Tinius selbst hat seine Verbrechen niemals eingestanden, ruhig und ohne Reue hat er seine Strafe verbüßt, in seinen Mußestunden eine Untersuchung über die Offenbarung Johannis schreibend. (Seine stupende Gelehrsamkeit, die vielfach bezeugt wird, gab Anlaß zu der Legende, daß er im Gefängnis aus dem Gedächtnis ein hebräisches Lexikon verfaßt hätte.)

Als er 1835, als angehender Siebziger, die Freiheit wieder erlangte, sah er sich von allen gemieden. Seine Familie hatte sich von ihm losgesagt, seien frühere Gemeinde setzte zu seinem Lebensunterhalt nur 25 Taler jährlich aus. So fristete er bis zu seinem Tode ein ruheloses Wanderleben. 1846 starb er in dem Kirchdorfe Graebensdorf bei Königswusterhausen, wo er seit 1840 lebte.

Oft und viel bedauerte er den Verluste seiner Bücherei, wie er auch unbefangen von seinem Prozesse redete. Jedenfalls sind manche Widersprüche dieses Prozesses noch nicht gelöst, die vielleicht mehr Klarheit über den Charakter des Mannes geben könnte, der nicht als Bibliophile sondern als Märtyrer sich verteidigte; wie er denn in einem Briefe aus Zeitz vom 2. Januar 1841 schrieb: „Welche Wege der Prüfung ich gemacht habe, wird die in diesem Jahre noch erscheinende Geschichte meines Kriminalprozesses offenbaren. Seit sechs Jahren lebe ich hier in Zeitz kümmerlich von der Schriftstellerei, wobei die Buchhändler die Körner und ich die Spreu bekomme; denn die mir im hiesigen Landarmenhause angewiesene Versorgung kann ich, ohne bald jenseits versorgt zu werden, nicht annehmen.“ Eine Briefstelle, die insofern interessiert, als sie auch auf die noch nicht hinreichend bekannte spätere schriftstellerische Tätigkeit des Tinius verweist, den einen Bibliomanen zu nennen in jedem Falle seiner Schuld oder Unschuld kein Anlaß vorliegt. Denn er beging seine Verbrechen nicht der Bücher, sondern des Geldes wegen, um sich aus seinen Zahlungsschwierigkeiten zu befreien.

 

Ein neues Bild auf Johann Georg Tinius entsteht beim Lesen des Buches Der Büchermörder von Detlef Opitz, dass erst 2005 im Eichborn Verlag erschienen ist. Eine Rezension ist auch auf dieser Website zu finden.