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Der Büchermörder

Detlef Opitz: Der Büchermörder
Eichborn Verlag Berlin

Ein Criminal - nicht nur für Bibliophile

Es gibt Todesopfer, Tatwerkzeuge, Angeklagte, Verdächtige, Zeugen, Amtsrichter und langwierige Ermittlungen – und immer wiederkehrende Zweifel an allem und jeden. Zum Schluss ein Urteil: zehn Jahre Kerker. Die Zweifel bleiben.Damit sind in Detlef Opitz’ 354 Seiten umfassenden Werk  „Der Büchermörder“ alle Zutaten für einen klassischen Kriminalroman vorhanden. Doch „Der Büchermörder“ ist weit davon entfernt, sich in dieses Genre einordnen zu lassen, auch wenn Opitz mit ihm einen fast 200 Jahre alten Kriminalfall aufrollt.

Pfarrer Johann Georg Tinius wird 1813 im sächsischen Poserna verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, zwei Morde begangen zu haben, um seine Bibliothek finanzieren zu können. Ein Indizienprozess beginnt, der zehn Jahre dauern soll. Seitdem zählt der deutsche Pfarrer zu den bekanntesten Bibliomanen der Welt, steht in einer Reihe mit dem Spanier Don Vincente (der ebenfalls im Roman auftaucht), den Londoner Thomas Rawlinson oder dem in Florenz geborenen Gugliemo Timoleone.

Daran ändert sich zwar mit dem Erscheinen des Romans nichts, im Gegenteil, aber was sich verändern wird, ist das Bild des Pfarrers, das seit 200 festgefahren ist. Denn Detlef Opitz bringt Bewegung in die Sache.  Er räumt mit scheinbar gesicherten Erkenntnissen um die Person und den Fall des Pfarrers Tinius auf, die einer unumstößliche Wahrheit denkmalsgleich in Stein gehauen stehen. Bis jetzt. Denn nach der Lektüre des Romans muss Johann Georg Tinius in anderem Licht gesehen werden, auch wenn es zu einer Rehabilitation nicht reicht. Und das, obwohl oder gerade weil Detlef Opitz gut ein Jahrzehnt lang akribisch recherchiert, die Sekundärliteratur studiert und auch die Originalakten, soweit überhaupt noch vorhanden, durchforstet hat.
Zum Glück lässt Opitz den Leser an diesem Nachforschungsmarathon teilhaben und damit an einer Reise zwischen Altendambach und Suhl in Thüringen, Boston in den USA (dorthin hatte es ein Konvolut von Schreiben und Dokumenten des Verlegers Hans Kasten über den Bibliomanen Tinus verschlagen), Leipzig als Ort der Tat und des Gerichtsprozesses bis hin zu Gräbendorf, der letzten Station des irdischen Daseins von Tinius. Allein diese Erlebnisse wären ein Extra-Buch wert gewesen, doch das ist die Sache von Opitz nicht, sehr zum Vergnügen des Lesers, der so Mühsal, Freuden und Niederlagen des Forschers Opitz miterlebt.

Johann Georg Tinius ist zwar der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Doch Opitz strikt darum ein wahres Netzwerk ineinander verschlungener Fakten, Zufälle, Geschichtsdiskursen, Randnotitzen- und geschichten. Der Leser begegnet bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten, über die Opitz Interessantes zu berichten weiß. Beispielhaft sei hier Professor Dr. Anton Kippenberg genannt. Ihn hatte der Tinius-Forscher Hans Kasten als Verleger auserkoren für ein Buch, das er über den Pastor schreiben wollte. Obwohl es dazu nicht kam, schickte er Kippenberg das Tinius-Stück von Paul Gurk mit Widmung. In dieser Textpassage erfährt der bibliophil interessierte Leser gleich noch, dass es sich um das siebente Exemplar einer 50 Stück umfassenden Auflage des Dramas handelt. Anschließend gibt Opitz einen Exkurs in die Besonderheiten des Sammelns von Inselbändchen nicht zuletzt mit Blick auf die Teilung des Verlags in Insel/Kippenberg ost und Insel/Kippenberg west.
Solche Informationsschätze kann der Leser nicht nur bei bekannten Persönlichkeiten heben. Auch über Alltagspersonen und Handlungsorte, seien sie noch so klein, hat der Autor interessante Kleinigkeiten ausgegraben und nicht für sich behalten. So erfährt man, dass Otto Ernst Christian Höpfner (bei ihm hatte Tinius Quartier gemacht), eine Schankwirtschaft im Preussergässchen betreibt (1813), „direkt neben der Hohen Lilie am Ausgang zum Neuen Neumarkt,  wo der Klavierlehrer Wieck wohnt, bald aber Theo Althoff, und lange Zeit später das HO-Kaufhaus Centrum seinen Ort bekam, will heißen: Karstadt wieder“.

Der Leser kann sich nicht nur anhand der wiedergegebenen Akten einen eigenen Eindruck vom Fall Tinius machen. Er lernt auch den Menschen Tinius dahinter kennen. Beispielsweise seinen ersten „coup“ mit 13 Jahren, als er mehrere Kapitel des Berliner Katechismusses frei aus dem Kopf heraus aufsagen konnte, nachdem er nur wenige Stunden hatte, diese zu lesen, seine Studiosus-Zeit, die Höhen und Tiefen seiner Ehen und natürlich immer wieder, seine Leidenschaft für Bücher bis zum traurigen Ende seiner Bibliothek. Opitz zieht Parallelen zu einem Prozess gegen Pastor Geyer vor knapp zehn Jahren. Auch dieser Prozess ein Indizienprozess wegen Totschlages. Verurteilt zu acht Jahren Gefängniss. Auch Geyer beteuerte, wie sein Pendant Tinius, stets seine Unschuld.

Kritisch geht Opitz mit der bisher erschienen Literatur über die Affaire Tinius ins Gericht, deckt scheinbare Fakten als Phantasie oder Irrtümer auf, die sich von Autor zu Autor vererbten.Opitz jongliert gekonnt mit der Sprache sowohl mit Wortwahl als auch mittels der Ortographie. Ganz nebenbei lernt der Leser die unterschiedliche Bedeutung des Wortes „frivol“ um 1800 und heute kennen und welche Auswirkungen es hat, dies nicht zu wissen.

Solche informativen „Kleinigkeiten“ geben dem Buch einen zusätzlichen Reiz. Der versteckt sich sogar noch in der Danksagung, die man auf keinen Fall überlesen sollte. Keine leichte Lektüre, aber spannend, informativ und durchaus unterhaltsam.


Wie Detlef Opitz das Bild von Tinius verändert, ist gut im vergleichenden Lesen zu sehen. Der Beitrag über Tinius auf dieser Website entstand vor dem Erscheinen des Büchermörders und bleibt unverändert.

Detlef Opitz
Der Büchermörder
Eichborn Verlag Berlin
ISBN 3-8218-5763-3                                             top