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Pudels Kern]
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Aby Warburg]
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Der Seele ...Kluft]

Karen Michels: „Aby Warburg. Im Bannkreis der Ideen“
Verlag C.H.Beck, München
27 Seiten, 19,90 Euro, ISBN: 978 406 55885 6

Erste Annäherung an einen Querdenker

Warburg! Hört ein Kunstliebhaber oder Kulturwissenschaftler diesen Namen, kommen ihm Begriffe wie „Ikonologie“ und „Kulturwissenschaftliche Bibliothek“ in den Sinn. Er denkt an Künstler wie Botticelli und Rembrandt. Im Unterschied dazu verbindet ein Wirtschaftswissenschaftler oder Finanzfachmann mit dem Namen Warburg erfolgreiche Bankgeschäfte seit 200 Jahren und die zurzeit zweitgrößte unabhängige Privatbank Deutschlands. Beides ist richtig und beides gehört untrennbar zusammen. Wer wissen will warum, der sollte im Buchhandel nach der Autorin Karen Michels fragen. Die habilitierte Kunsthistorikerin legte  im C.H. Beck-Verlag ein Porträt des Mannes vor, der beide Welten miteinander in fruchtbringende Beziehung setzte: Aby Warburg.

 Aby Warburg wurde 1866 als erster Sohn einer jüdischen Hamburger Bankiersfamilie geboren. Dass der Name Warburg in der Welt der Kunst einen genauso gewichtigen Klang hat wie in Finanzkreisen, ist seinem Ausbruch aus der ihm vorgezeichneten Lebensbahn zu verdanken. Als ältester Sohn hätte er, dem Recht des Erstgeborenen folgend, das Familienunternehmen Bank übernehmen müssen. Doch das „schwierige, aufsässige und diskussionsfreudige“ Kind, entwickelte sich zum „Bücherwurm“.  Auch der von seiner Großmutter für einen solchen Fall übliche Vorschlag, Rabbi zu werden, kam für Aby nicht in Frage. „Sein Lieblingsthema war ein anderes, und das lernte er auf dem Johanneum kennen und lieben: die Kultur der Antike.“ Gegenstand seiner Forschung war im Wesentlichen das Nachleben der Antike in den unterschiedlichsten Bereichen der abendländischen Kultur bis in die Renaissance.
Ergebnis seines Schaffens: Er hat die Erforschung der italienischen und deutschen Renaissance entscheidend geprägt, mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek einen bis heute international anerkannten und geschätzten Raum der Kunst- und Kulturforschung begründet. Kaum denkbar ohne die finanzielle Unterstützung seiner Familie und damit des Bankhauses Warburg.Besonders deutlich wird dies am Aufbau seiner Bibliothek, „eine Büchersammlung, die ein Feld von Fragen bestellen und einer Forschungsaufgabe dienen sollte, die zur Überwindung der grenzpolitischen Befangenheit der Wissenschaft beitragen und neue Denkbahnen eröffnen sollte“.

Alle Bücherwünsche Abys wurden von seiner Familie erfüllt. Dies soll sich der damals 13-jährige Aby als Gegenleistung von seinem ein Jahr jüngeren Bruder Max ausbedungen haben, als er auf sein Erbrecht verzichtete.Weder Aby noch einer seiner Brüder haben sich ihren finanziellen beziehungsweise geistigen Einsatz gegeneinander aufgerechnet. Im Gegenteil. Die Familie verstand diese Abmachung als Beitrag zur kulturellen Bildung der Gesellschaft. 1933, drei Jahre nach Abys plötzlichem Tod,  umfasste die Bibliothek 60 000 Bände. Einen leichten Missklang zwischen den Brüdern hatte es lediglich gegeben, als „der Bau des Bibliotheksgebäudes ... das Vierfache der zu Anfang angesetzten 100 000 Mark überschritt und Aby zusätzlich eine Klinkerfassade verlangte", schreibt Martin Warnke in seinem Vorwort, in dem er das Verhältnis Aby Warburgs zur Warburg-Bank beleuchtet.

Welche Stationen Aby Warburg durchläuft, bis er als Begründer der Ikonographie und Initiator und Seele der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek ein international anerkannter Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler  geworden ist, beschreibt und erläutert Karen Michels in ihrem Porträt informativ und auch für den Laien verständlich. Auf 127 Seiten ermöglicht sie dem Leser einen ersten Blick in das Leben und Werk Aby Warburgs – gegliedert in 13 Kapitel. Unterhaltsam zu lesen und lehrreich. Der gestandene Kunst- und Kulturwissenschaftler wird sicher nichts oder nur wenig Neues entdecken. Andere Leser dagegen schon. Michels zeigt neben dem Wissenschaftler auch den Familienmenschen Aby Warburg. Schwächen und Schwierigkeiten im Alltag werden nicht ausgelassen. Auch nicht die schwere Psychose, unter der Warburg litt. Eine Zeit, als er die Kontrolle über sich und seine Situation verlor, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. „Im Oktober 1918 lief er sogar mit einer Pistole im Haus herum – in der Absicht, seine Familie selbst zu töten, bevor sie jenen Unbekannten in die Hände fiel“, zitiert Michels in ihrem Buch.Der Leser bekommt einen Einblick in die Gedankenwelt des Wissenschaftlers, lernt Hauptwerke Warburgs kennen, insbesondere die Kulturwissenschaftliche Bibliothek.
Er erhält eine Vorstellung von dem politisch aktiven Warburg, was sich beispielsweise Ende 1914  in der Herausgabe der Zeitschrift „Rivista“ zeigt, „... ein aus heutiger Sicht naiv wirkender Plan“, wie Michels schreibt. Die Zeitschrift sollte den Italienern den politischen Standpunkt Deutschlands erklären – im ersten Kriegsjahr!.Viele Schriften, Überlegungen, Werke Abys lässt die Autorin anklingen, streift sie. In einige dringt sie tiefer in die Materie ein, zeichnet an ihnen die Arbeitsweise und das für Warburg typische ressortüberschreitende Denken nach. Warburg misst beispielsweise der Briefmarken-Kunst innerhalb der Gesellschaft eine wichtige Funkton als „Träger politischer und kultureller Botschaften“ bei. „Wie kein anderes Medium spiegelt sie auf knappstem Raum und in gedrängtester Form kulturelle und politische Normen ihrer Zeit.“ Als Schlussfolgerung lässt er 1926 eine Briefmarke entwerfen, die auch heute noch dem europäischen Einigungsgedanken als Ansporn dienen kann.

Karen Michels kommt in ihrem Porträt mit wenig Fachsprache aus. Wenn nötig, werden Fachausdrücke verständlich erläutert. Sie zeigt in ihrem Buch viele Türen, die sich aus dem Wirken Warburgs in der Kunstgeschichte geöffnet haben, aus seinem Denken und seiner Zusammenarbeit mit anderen Persönlichkeiten wie Fritz Saxl, Gertrud Bing, Erwin Panofsky oder Ernst Cassirer. Um diese Türen zu durchschreiten, muss der Leser über Michels Buch hinaus gehen, das „nur" eine Einführung in das Werk Warburgs bietet. Allerdings eine, die neugierig macht. Das Literaturverzeichnis liefert erste Wegweiser für den, der mehr über Warburg lesen möchte.Die zur Illustration eingesetzten Fotos von der Familie und der Bibliothek, die Reproduktion von Notizen seiner Hand oder des von ihm 1889 ausgefüllten  Fragebogens „Erkenne Dich selbst", schlagen eine zusätzliche, persönliche Brücke zwischen dem Leser und Warburg. Wer vor der Lektüre der Kunst- und Kulturgeschichte eher unbeteiligt gegenüberstand, kann sich vielleicht dem Bannkreis der Ideen Warburgs nicht mehr entziehen.